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Der Glaube kommt vom Hören

Versöhntes Leben – geschenkte Freiheit

Vortrag am Geistlichen Studientag für Ordensleute, am 12. November 2011, im Marienhaus in Münster

von Pfarrer Stefan Jürgens

Versöhnung und Freiheit – dazu kann ich Ihnen keine systematische Abhandlung bieten, keine Philosophie oder Theologie. Sie haben einen Landpfarrer eingeladen – und damit hoffentlich gewusst, worauf Sie sich einlassen. Als Seelsorger liegt mir an der pastoralen Praxis, die selbstverständlich theologisch verantwortet und geistlich vertieft sein muss; als Christ bin ich an Erfahrungen interessiert, die das Leben wirklich verändern. Was ich Ihnen also heute anbieten kann, sind eigene Gedanken und Erfahrungen, keine systematische Theologie.

Als Kind und Jugendlicher war ich immer sehr zurück-haltend und schüchtern, noch als Student habe ich kaum den Mund aufgemacht. Selbstbewusstsein habe ich durch Jesus Christus geschenkt bekommen; ein Selbstbewusstsein, das aus einer inneren Freiheit herkommt, aus einem österlichen Glauben. Selbst in innerkirchlichen Auseinandersetzungen habe ich diese Art von Rückenstärkung erfahren: Christus macht mir Mut, zu sagen, was ich denke. Ich habe ja nichts zu verlieren. Ich muss nicht „etwas“ aus mir machen, weil ich schon  „jemand“ bin.

Im Grunde genommen steht alles, was ich Ihnen heute sagen kann, in der Einladung zu diesem Studientag; ich werde die Gedanken, die ich dort bereits nieder geschrieben habe, einfach entfalten. In der Einladung steht:

„Versöhntes Leben – geschenkte Freiheit: Wer in Christus ist, wird ein freier Mensch.“

Wer österlich lebt, hat den Tod im Grunde genommen schon hinter sich. Deshalb kann er sein Leben riskieren, sich für andere einsetzen, ohne Angst haben zu müssen, dabei etwas zu verpassen oder selber zu kurz zu kommen. Als Christin oder Christ zu leben heißt: Ich habe nichts zu verlieren, weil alles schon gewonnen ist. Aus diesem christlichen Selbstbewusstsein erwächst eine ungeahnte Freiheit – eine Freiheit, die sich hingibt, die zur selbstvergessenen Liebe wird. Dennoch tun sich viele Christen – auch Ordensleute – mit der Freiheit schwer. Sie erfahren sich in einem Regelwerk gefangen, in dem es mehr um richtiges Verhalten als um tief begründete Identität zu gehen scheint. Sie kommen häufig nicht aus sich heraus, weil sie gar nicht in sich selber wohnen. Auch das Sakrament der Versöhnung wurde häufig nur als Vergebung moralischen Fehlverhaltens gesehen und praktiziert. Und dabei geht es doch um die Zusage christlicher Identität, um Identität und Freiheit! Denn wer begreift, dass er erschaffen ist – von Gott ins Leben geliebt! –, der muss sich nicht mehr selbst produzieren. Wer erlöst ist, muss sich nicht mehr rechtfertigen. Wer schon „jemand“ ist, kann getrost darauf verzichten, „etwas“ aus sich zu machen; Sein ist mehr als Schein. Nur wer sich hat, kann sich geben, wie er ist – und sich hingeben! Eine gesicherte christliche Identität weckt Aufmerksamkeit, ein demütig-selbstbewusstes Christsein hat missionarische Kraft. Auch innerkirchlich hat die „Freiheit in Christus“ Konsequenzen für den Umgang mit Macht und Autorität, mit Visionen und Strukturen.

Christen können die freiesten Menschen der Welt sein, auch unter den Bedingungen der real existierenden Kirche.“ Freiheit ist Ansichtssache. 

Es geht also um Freiheit. Doch was ist das – Freiheit? Es gibt zum einen die „Freiheit von etwas oder jemandem“: Man befreit sich von ungeliebten Bindungen, von alten Gewohnheiten, von Autoritäten: Freiheit als Befreiung, als Trennung. Zum andern gibt es die „Freiheit zu etwas oder jemandem“: Da hat jemand die Möglichkeit, Neues zu wagen, ein neues Leben zu beginnen: Das ist die Freiheit als Ermöglichung zum Aufbruch. Aktuelles Beispiel: Die schön renovierten Domtürme auf der Einladung zu diesem Studientag. Sie mussten erst von Staub und Dreck befreit werden – „Freiheit von“ – um neu im Licht erstrahlen zu können – „Freiheit zu“. Vom Staub befreit, zum Licht befreit. Eine solche Renovierung hat unser Glaube immer nötig, auch die Kirche als „ecclesia semper reformanda“! 

Es gibt auch so etwas wie „genommene“ und „geschenkte“ Freiheit. Einfaches Beispiel: Eine Mutter fordert ihren Sohn, der am Sonntagmorgen noch im Bett liegt, auf, mit zur Kirche zu gehen. Sie lädt ihn ein, aber sie zwingt ihn nicht. Als er nicht aufstehen will, sagt sie: „Du hast die volle Freiheit zu glauben oder nicht.“ Das ist geschenkte Freiheit! Wenn der Sohn dann aber sagt: „Du hast mir doch die Freiheit gegeben, dann brauche ich ja nicht zu kommen, dann kann ich ja machen, was ich will“, dann nimmt er sich die Freiheit heraus, dann ist das genommene Freiheit. Die Mutter wollte den Sohn zum Glauben befreien, der Sohn jedoch hat sich nur davon befreien wollen. Hier wird schon deutlich: Freiheit und Verantwortung brauchen einander, Freiheit geht nicht ohne Bindung. Die „Freiheit von“ kann infantil oder pubertär bleiben, weil man Verantwortung loswerden will; die „Freiheit zu“ ist erwachsen und reif, weil man Verantwortung wahrnimmt. 

Eine letzte Unterscheidung ist die zwischen innerer und äußerer Freiheit. Es gibt Menschen, die man mit Freiheitsentzug bestraft hat, auch um ihre Gedanken unschädlich zu machen. Gerade solche Menschen haben oft eine unglaubliche innere Freiheit entwickelt. Denken Sie etwa an Dietrich Bonhoeffer oder Nelson Mandela. „Die Gedanken sind frei“, aber das ist mitunter sehr anstrengend, es bedarf einer großen inneren Disziplin. Andererseits gibt es Menschen, die jede äußere Freiheit haben - und doch innerlich ganz gefangen sind, nicht zu sich selbst finden, nicht zu anderen, nicht zu Gott. 

Am treffendsten hat es Matthias Claudius gesagt: „Der ist nicht frei, der da will tun können, was er will, sondern der ist frei, der da wollen kann, was er soll.“ Anders gesagt: Nicht der ist frei, der tun und lassen kann, was er will, sondern der, der wollen kann, was er soll. Also derjenige, der in aller Freiheit seine Verantwortung wahr nimmt. Dasselbe meint der kleine Vers, den ich für die Einladung zu diesem Tag geschrieben habe: 

Freiheit, die mir geschenkt wird, ist Gnade.

Freiheit, die ich mir (heraus-)nehme, ist Willkür.

Erlösung ist geschenkte Freiheit aus Liebe. 

Glauben ist das Annehmen der Freiheit, die zur Liebe wird. Zunächst möchte ich mit Ihnen in die Bibel schauen. Dann geht es um das, was man „österliches Leben“ nennen kann. Als Beispiel dafür blicke ich kurz in die Geschichte des Bußsakraments. Angewendet wird das Thema „Freiheit“ dann anhand einiger Anmerkungen zum Ordensleben und zu den Evangelischen Räten. Zwischendurch gibt es eine kleine Meditation, und am Schluss eine Parabel, in der das Gesagte zum Bild wird, das man in Gedanken mitnehmen kann.

 

 - Bilder der geschenkten Freiheit

Ich möchte Ihnen zwei Bilder vorstellen, die deutlich machen, was geschenkte Freiheit ist. Es sind biblische Bilder, eines aus dem Alten und eines aus dem Neuen Testament. 

Das erste ist der Exodus Israels. Der beschwerliche Gang in die Freiheit ist das Ursprungsereignis Israels. Gott und Freiheit sind für das Volk im Grunde genommen ein und dasselbe. Noch bevor Israel über die Schöpfung und den Sinn des Lebens nachgedacht hat, wurde der Auszug aus Ägypten erzählt und gefeiert. Dahinter steht die Erfahrung:

Gott ist interessiert an den Menschen, er sieht das Elend seines Volkes, offenbart sich selbst, beruft einen Befreier – Moses – und führt sein Volk aus der Sklaverei heraus. Unterwegs wird der Sinai-Bund geschlossen: Die Zehn Gebote sollen die geschenkte Freiheit garantieren, das Volk soll sich nicht in neue Zwänge begeben. 

Doch immer wieder gibt es Rückschläge. Das Volk will zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens. Die Freiheit ist allzu anstrengend, vor allem für Hirn und Magen. Denn wer frei sein will, muss denken wollen und Durststrecken überstehen. Man muss Vertrauen haben, man braucht einen langen Atem. Mit anderen Worten: Das Volk bleibt infantil, es will Betreuung statt Freiheit. 

Diese Art von Regression – zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, zurück in die kindliche Versorgungsmentalität – gibt es auch heute. Sie äußert sich in kindlichem Gehorsam oder in ängstlicher Gesetzlichkeit. Oder man bleibt zeitlebens pubertär und kämpft sich an Autoritäten ab, über die man schlecht redet, wenn man sie weit weg wähnt, vor denen man aber buckelt, sobald sie einem gegenüberstehen. Ein Mitbruder sagte: „Jetzt bin ich 37 Jahre lang Priester, aber wenn der Bischof kommt, bin ich ängstlich wie ein Kind.“

Woran liegt das? Es liegt an mangelnder Freiheit, aber auch an autoritären Systemen, die sich allzu gerne anbieten, einem die lästige Last der Freiheit wieder abzunehmen. Auf diese Weise entstehen regressive Verhaltensweisen; nach außen wirkt man gehorsam, nach innen jedoch ist man in Wirklichkeit seiner vermeintlich heilen Kinderwelt nicht entwachsen. Dieses System funktioniert perfekt, auch heute noch: in den Führungsetagen großer Firmen, in Ordensleitungen, in der kirchlichen Hierarchie. Ein erster Weg zur Freiheit lautet deshalb: Lassen wir uns auf das Wagnis ein, von Gott geführt zu werden! Widerstehen wir den alten Sicherheiten, den Fleischtöpfen Ägyptens, dem ängstlichen Verharren im Gestern! Gottes Pastoral ist das Leben in Freiheit. 

Die Kirchenpastoral muss deshalb den Freiheitsdrang des modernen Menschen ernst nehmen. Ohne – innere und äußere – Freiheit verbleiben wir zeitlebens in Ägypten gefangen: an Fleischtöpfen, die uns abhängig halten; an kindlichen Prägungen, die uns klein halten. 

Ein zweites biblisches Bild, diesmal aus dem Neuen Testament, ist das Kind. Wir sind Kinder Gottes: Das sagt sich so leicht! Und es wird oft gesagt in der Kirche; es ist zur Formel geworden. Manchmal wird es sogar missbraucht, um kindlichen Gehorsam zu erzwingen. Aber ahnen wir überhaupt, was Kindsein im Sinne Jesu bedeutet? Ich bin davon überzeugt: Wenn wir es wirklich glauben, wird sich unser Leben ändern: Wir werden wirklich frei!

Was bedeutet das: Kindsein? Wenn ein Kind auf die Welt kommt, dann wissen die Eltern noch nicht viel von ihm. Sie wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Sie wissen, welchen Namen sie ausgesucht haben. Sie wissen, dass es schreit und Hunger hat und die Windeln voll macht. Ziemlich wenig wissen Eltern von ihrem neugeborenen Kind. Und doch lieben sie es über alles! Kindsein heißt: Geliebt sein um meiner selbst willen; eben weil es mich gibt, und nicht, weil ich gut und nützlich bin. 

Sie kennen die Geschichte vom barmherzigen Vater, Lk 15.  Es ist die Geschichte zweier Kinder: des verlorenen Sohnes und seines beleidigten Bruders. Sie beide haben einen barmherzigen Vater, und so heißt das Gleichnis ja auch: vom barmherzigen Vater. Es ist das wichtigste Gleichnis der gesamten Bibel. Weil nur Jesus so von Gott spricht; nur er macht Ernst damit, dass wir geliebt sind ohne Bedingung, um unserer selbst willen – eben als Kinder des einen Vaters. 

Der eine Sohn will Freiheit. Das Besondere ist: Der Vater lässt sie ihm; er hält ihn nicht fest, er lässt ihn gehen. Er schenkt ihm die erbetene „Freiheit von“. Herunter gekommen bis zum Schweinetrog, kehrt der verlorene Sohn um. Immerhin weiß er noch, dass er ein Zuhause hat. Zwar meint er, alle Sohnesrechte verloren zu haben: Er will Knecht sein, Tagelöhner. Aber immerhin: Für seine Umkehr kennt er die Richtung: zurück nach Hause! 

Dort wird dann das große Fest gefeiert. Der Vater interessiert sich nämlich gar nicht für die Vergangenheit. Er fragt nicht: Wie konnte es nur soweit kommen? Oder: Wo bist Du nur gewesen? Oder: Ich hab’s doch immer gewusst! Nein: Er macht keine Vorhaltungen, er hält ihm nichts nach, er will überhaupt nichts wissen, er feiert ein Fest.

Merken Sie, was hier los ist: Einmal Kind, immer Kind – das bedeutet: bedingungslos geliebt sein; nicht weil ich gut bin, sondern weil es mich gibt! Nicht weil ich gut bin, sondern weil Gott gut ist! Ich finde es bemerkenswert, dass Jesus an keiner Stelle des Neuen Testaments so etwas wie Reue fordert, so etwas wie demütige Zerknirschung; für ihn ist Versöhnung ein fröhlicher Vorgang, ein freudiges Ereignis! 

Doch der andere Sohn ist beleidigt. Neidisch schielt er auf den Versagerbruder. Nun kriegt dieser Mistkerl sogar noch ein Fest. Was war mit diesem Sohn passiert? Ganz einfach: Er hatte vergessen, dass er Kind ist. Er war die ganze Zeit beim Vater, aber es hat ihn nicht mehr berührt. Deshalb sagt der Vater zu ihm: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein.“ Dieser zweite Sohn hätte sich das begehrte Mastkalb einfach nehmen können! Er hatte verges-sen, einfach vergessen. Er wusste nicht mehr, dass er ein geliebtes Kind ist. Es bedeutete ihm scheinbar immer weniger. Stattdessen hielt er sich an die vorgegebene Ordnung. Interessant ist, dass er seinem Bruder vorwirft, er habe sich mit Dirnen abgegeben. Davon ist vorher im Gleichnis überhaupt nicht die Rede. Es scheint zum Kennzeichen der Korrekten und Frommen zu gehören, sich die Sünden der anderen immer genau auszumalen, besonders die sexuellen Sünden. An solchen Stellen merkt man immer, wie verklemmt manche von den Braven und Ordentlichen sind, wie sehr sie sich nach Freiheit sehnen, und dass der Neid auf andere häufig der Grund ihrer Unfreiheit ist. 

Der verlorene Sohn hatte schwer gesündigt. Aber er wusste noch, dass er Kind ist und ein Zuhause hat. Der beleidigte Bruder hatte scheinbar alles richtig gemacht. Aber er hatte vergessen, dass er Kind ist. Beide haben – Gott sei Dank! – einen barmherzigen Vater, der für beide das Richtige tut: Der eine bekommt ein Fest, der andere eine feste Zusage. Beide sollen nicht vergessen: Wir sind Kinder des einen Vaters. Beiden schenkt er die „Freiheit zu“!  

Gott lässt uns jede Freiheit. Auch die Freiheit, von ihm wegzugehen, uns von ihm abzusondern – zu sündigen. Gott lässt uns die „Freiheit von“, aber er befreit uns zur „Freiheit zu“! Immer aber bleibt er unser Vater, daran ändern wir nichts. Wer umkehrt, wird festlich empfangen. Gott bleibt immer unser Vater. Wir aber vergessen es oft.

Die meisten von uns sind wohl wie der beleidigte Bruder: Wir gönnen Gott seine Güte nicht. Wir leben immer bei ihm; aber wir wissen es nicht recht zu schätzen, es bedeutet uns oft so wenig. 

Paulus sagt: „Ihr habt nicht einen Geist der Sklaverei empfangen, so dass ihr wieder Angst haben müsstet, sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: 'Abba, lieber Vater!'" Augustinus hat diesen Vers einmal so kommentiert: „Die Furcht des Sklaven ist, dass der Hausherr kommt, die Furcht des Kindes ist, dass der Vater geht." 

Viele Christen sehen sich nicht als Kinder des Vaters, dessen Nähe sie nicht missen möchten. Nein, sie haben Angst vor ihm. Zeitlebens bleiben sie Sklaven ihrer Angst. Ich nenne das gerne den christlichen Aberglau-ben. Ja, Aber-Glauben! Es gibt Glaubensgeschwister, für die ist Gott nicht der barmherzige Vater, von dem Jesus spricht; für die ist Gott eher ein Kapitalist, der aufrechnet und am Ende auszahlt, was wir vor ihm geleistet haben. Das gibt es, den Aberglauben mit christlichem Gesicht: Aus Angst vor Gott, dem Richter, versuche ich, mich durch Frömmigkeit und gute Taten abzusichern. Dieser christliche Aberglaube bringt immer neue, misstrauische Fragen hervor:

- „Ja, ich glaube, dass Gott mich in Jesus Christus erlöst hat, aber habe ich mich auch schon richtig dafür entschieden?“

- „Ja, ich glaube, dass Gott in Jesus Christus alles für mich getan hat, aber muss ich mich jetzt nicht durch vorbildliche Frömmigkeit bei ihm revanchieren?“

- „Ja, ich glaube, dass Gottes Gnade ein unverdientes Geschenk für mich ist, aber ganz umsonst gibt es nichts im Leben. Die Sache muss einen Haken haben.“

- „Ja, ich glaube, dass mir der Himmel schon in der Taufe geschenkt ist, aber meine Höllen- und Heidenangst ist einfach größer, man weiß ja nie.“ Auf das vorbehaltlose „Ja" Gottes zum Menschen antwortet unser Aberglaube immer wieder mit „Ja, aber..." Gibt es vielleicht deswegen so viele freudlose, bedrückte, schwermütige Christen in unseren Kirchen, weil wir Gottes Geschenk der Gnade und der Liebe nicht über den Weg trauen? Gibt es deswegen so viele Christen, die Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein haben, die sich selber nicht beja-hen können, weil sie meinen, vor Gott nicht zu genügen? Weil sie das Gefühl haben, dass ihre Lebensleistung einer späteren Beurteilung nicht standhält? 

Wir sind doch Kinder Gottes! Nur Gott kann uns sagen: Du bist angenommen, geliebt und wertvoll, so wie du bist, mit deinen Stärken und Schwächen, mit deinen Erfolgen und Fehlern. Nicht, was du selber aus deinem Leben machst, ist entscheidend, sondern dass Gott dir dieses Leben geschenkt hat. Und dich erlöst hat zum ewigen Leben. 

Noch ein paar ergänzende Gedanken zum Gleichnis vom barmherzigen Vater. Der verlorene Sohn steht für die Freiheit, der beleidigte Bruder für die Ordnung. Beide brauchen einander. Der jüngere Sohn ist wie jeder moderne Atheist: Er hat den Tod des Vaters bereits antizipiert, vorweggenommen, indem er sich das Erbe hat auszahlen lassen. Auch Atheisten – allen voran Nietzsche – sprechen vom Tod Gottes! Der ältere Sohn ist wie die frommen Kirchentreuen: Sie halten die Ordnung aufrecht, aber häufig ohne Liebe, ohne Freude und Begeisterung. Wer sich Gottes Freiheit schenken lässt, lebt nicht mehr aus Angst, sondern aus Liebe!

Ein zweiter Weg zur Freiheit lautet also: Legen wir unseren Aberglauben ab, dieses Misstrauen gegenüber Gott, das uns klein und ängstlich macht. Legen wir den Aberglauben ab, lassen wir uns befreien zum Abba-Glauben Jesu Christi! 

Ein falsch verstandenes Kindsein führt zum Aber-Glauben: Die alte Angst vor Gott; die Angst, die einen klein macht, regressiv. Ein recht verstandenes Kindsein führt zum Abba-Glauben: Gott, der mich einlädt, der mich befreit. Sehr mystisch ist das ausgedrückt in dem Text „Der mich umwirbt“ von Huub Oosterhuis: 

Der mich umwirbt,

den ich hab’ abgewehrt,

solang es ging.

 

Der mich nicht zerrte,

nicht drängte, nur winkte

über die Schwelle.

 

Der den Schleier meiner Angst

nicht fortriss, nur aufhob.

 

Dessen Stimme allein

mich so berührte,

dass ich nachgab.

 

War von Gerüchten

über dich gelähmt.

Jetzt ohne Ängste

endlich

erwart’ ich dich.

 

Der mich umwirbt,

den ich hab’ abgewehrt,

solang es ging.

 

Anders sagt es Johannes vom Kreuz: „Nur ein Mensch, der seine hergebrachten religiösen Gewissheiten verloren hat, ist fähig zur Begegnung mit dem lebendigen Gott.“ Also ein Mensch, der vom Aber-Glauben zum Abba-Glauben gekommen ist.

Österlich leben

Damit bin ich bei einem nächsten Punkt meiner Überle-gungen angelangt: Österlich leben. Wer aus der Kraft der Auferstehung lebt, der hat die wahre Freiheit gewonnen. Weil er weiß, dass er nichts mehr zu verlieren hat. Dazu möchte ich Ihnen eine wahre Begebenheit aus meiner Gemeinde erzählen: 

Eine sehr alte Frau lässt nach mir rufen. Ich kenne sie gut, sie ist gläubig und hat zeitlebens in der Gemeinde mitgemacht. Deshalb kann ich mit ihr auch ganz offen sprechen. Sie weiß, dass sie in Kürze sterben wird, ist aber geistig noch ganz präsent, hellwach. „Herr Pastor“, fragt sie mich, „habe ich im Leben wohl genug Gutes getan, damit ich jetzt in den Himmel komme?“ – „Nein“, ist meine spontane Antwort. Bei vielen anderen hätte ich ganz sicher „Ja“ gesagt, allein der Beruhigung wegen. Man sollte keine Diskussionen mehr führen, wenn die letzte Stunde geschlagen hat, keine Unsicherheiten verbreiten. Doch bei dieser Frau weiß ich, dass sie meinen Gedankengang versteht.

„Habe ich wohl genug Gutes getan?“, fragt die Frau. „Nein!“ Ich darf ein klares „Nein“ sagen. Denn im Grunde genommen weiß die alte Frau: Christen fragen gar nicht danach, ob sie wohl zu Gott kommen. Denn Gott ist zu den Menschen gekommen – in Jesus Christus. Niemand muss sich deshalb den Himmel verdienen, er ist offen. Dafür stehen der Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Wir kommen also wirklich „alle in den Himmel“, wie der alte Schlager singt. Aber nicht, „weil wir so brav sind“, das sind wir ja gar nicht, und das wäre ja auch viel zu wenig und viel zu billig. Sondern weil Jesus Christus unser Erlöser und Heiland ist. Nur deshalb! Ich tue das Gute, weil Gott mich zuerst geliebt hat, also aus Dankbar-keit, und nicht, um mir dadurch irgendetwas zu verdienen. 

Ich kenne viele Leute, die sagen: „Wenn ja doch alle erlöst sind, dann ist es ja egal, was ich tue. Dann kann ich ja einfach so drauflos leben.“ Ich verstehe diesen Einwand, doch er ist falsch. Schon unter uns Menschen gilt: Wer geliebt wird, der tut das Gute nicht mehr nur aus Pflicht, schon gar nicht aus Angst, sondern allein aus Liebe. Und das ist viel mehr, denn Liebe bringt Größeres hervor als Pflicht und Angst. So ist auch Gott kein Sadist, der uns im Leben testet, und kein Lohnbuchhalter, der nur zusammen rechnet, was wir bei ihm eingezahlt haben. Er ist die Liebe, die sich für uns hingibt. Er hat uns erlöst: von der Last, uns selbst bei ihm beliebt machen zu müssen. Das heißt: Ich habe nichts zu verlieren, ich kann mein Leben einsetzen für andere, ohne Angst haben zu müssen, dabei etwas zu verpassen. 

Wenn das so ist, dann kommt es nicht mehr darauf an, alles im Leben richtig zu machen. Und sich womöglich dadurch bei Gott absichern zu wollen. Sondern es kommt darauf an, etwas zu wagen. Wer Christus nachfolgt, kann zuversichtlich sein, voller Hoffnung. Und braucht deshalb keine Angst zu haben: nicht einmal vor dem Tod. Die alte Frau ist kurz nach unserem Gespräch gestorben. Ganz ruhig, als wenn sie selig eingeschlafen wäre. Wir haben noch gemeinsam gebetet: zu Jesus Christus, unserem Erlöser. 

Im Hintergrund steht die so genannte Rechtfertigungslehre: Der Mensch wird von Gott gerecht gemacht, ohne die Werke des Gesetzes, allein aus dem Glauben an Jesus Christus (vgl. Röm 3,21-22). Das bedeutet: Gott liebt mich bedingungslos und ohne Vorleistung. Er schenkt mir seine Liebe ganz umsonst – aber eben nicht ver-geblich: Denn das Geschenk der Erlösung, der unver-dienten Gnade, ruft nach einer Antwort im Leben hier und jetzt. Der Himmel ist nicht die Rendite eines moralisch einwandfreien Lebens, sondern die Konsequenz dessen, dass Gott mir in Jesus Christus seine ganze Liebe geschenkt hat. Diesen Glauben konnte ich mit der alten Frau teilen. Sie ist gestorben in dem Bewusstsein: Ich sterbe in Gott hinein; er liebt mich, nicht weil ich gut bin, sondern weil er gut ist. Soweit die Begebenheit aus der Gemeinde. 

Österlich leben heißt nicht, Kreuz und Leiden auszublenden. Das darf es auf keinen Fall bedeuten! Dann würde aus dem Christentum ein Siegermythos. Ich finde es immer wieder sehr gut, dass unser Zeichen das Kreuz ist – das Kreuz, und nicht der verklärte Christus! Und das nicht etwa deshalb, weil man den verklärten Christus nicht so gut darstellen kann wie das Kreuz. Sondern, weil das Kreuz auch für das Unerklärliche, Geheimnisvolle, Paradoxe des Glaubens steht; für das Ärgernis und die Torheit, von der Paulus spricht. „Ich bin zu euch gekommen“, sagt der Apostel, „um nichts zu wissen außer Christus, und zwar als den Gekreuzigten.“ Gerade der Apostel des Kreuzes ist der große Anwalt der Freiheit: Gnade vor Recht, Erlösung statt Gesetz.

Das Zeichen der Christen ist das Kreuz. Und das hat seinen Grund: Wir alle sind aufgerufen, die Geschichte des Kreuzes weiter zu schreiben. Auferstehung ist, wenn wir österlich leben, wenn wir mit Christus auferstehen, indem wir Leiden bekämpfen, mittragen oder annehmen, je nachdem. Auferstehung zeigt sich in unserer Liebe und Hingabe, im Gebrauch unserer Freiheit, in der Verantwortung, die wir füreinander übernehmen. Das Kreuz, zu dem wir aufschauen, ist eine Auffor-derung zum österlichen Leben hier und jetzt!

 

Denn die Liebe, zu der wir befreit sind, bringt Größeres hervor als Pflicht und Angst. Liebe macht frei. Gott hat mir alles gegeben, was er hat: seinen Sohn. Deshalb gebe ich nicht nur etwas, sondern mich selbst. Mit einem Wort: Ich liebe! Dazu bin ich befreit, erlöst. Ich muss keine Angst mehr um mich selbst haben. Ich muss das Leben nicht auspressen wie eine Zitrone, um auch ja nichts zu verpassen. Ich kann gelassen sein im Vorletzten, weil ich geborgen bin im Letzten. Ich muss mich nicht selbst produzieren, weil ich schon erschaffen bin. Ich muss mich nicht ängstlich rechtfertigen, weil ich gerechtfertigt bin.

Das heißt: Wir haben nichts zu verlieren. Die Auferstehung Jesu macht uns frei für den Blick auf den Nächsten. Für aufrichtiges Mitleid. Für einen realistischen Blick auf die Welt. Wir dürfen mutig sein und brauchen keine Angst zu haben. Keine Angst um uns selbst, keine Angst vor Menschen, keine Angst vor Gott. Wir lieben nicht, um gerettet zu werden, sondern weil wir gerettet sind, lieben wir umso mehr. 

Johann Baptist Metz nennt das die „Mystik der offenen Augen“, eine politische Mystik. Österliches Leben gibt es nicht am Anderen vorbei. Und dieser Andere ist für Metz stets der leidende Andere. Denn die Geschichte des Menschen ist keine Siegergeschichte, sondern vielmehr eine Passionsgeschichte. Das Tun des Gerechten, die Nachfolge Jesu Christi ist die Konsequenz erlösten Lebens. 

In der Zeit des volkskirchlichen Einerleis wurde das Christentum häufig nur als Erziehungsmittel benutzt. Regeln waren da wichtiger als Freiheit. Tradition galt mehr als persönlicher Glaube. Wir haben Rituale gelernt, aber haben wir auch Erlösung gefeiert? Wir haben Gebote gehalten, aber haben wir auch geliebt? Auch für die Orden gilt: Wir haben uns in ein Regelwerk eingefügt, aber sind wir dabei auch frei geworden? 

Angstmacher, Zeigefingerheber und Moralapostel jedenfalls haben das Christentum nicht verstanden. Sie predigen eine Religion ohne Christus, sie predigen eine Hoffnung ohne Erlösung – und einen Glauben ohne Liebe. Franz Kamphaus schrieb in seine Dissertation aus den 60er Jahren: „Die Prediger haben alle Theologie studiert, aber die meisten von ihnen predigen Kinderglauben.“ Die Freiheit des Glaubens, die Freude der Erlösung wurde oft deshalb nicht gepredigt, weil man meinte, die Leute könnten mit Freiheit gar nichts anfangen, sie bräuchten vielmehr Autorität. Herausgekommen ist dabei eine griesgrämige Religion – und nicht das Christentum; ein Glaube als Versicherung fürs Jenseits – nicht als Lebensprogramm. Langeweile, Pflichterfüllung, halbherzige fromme Folklore – mit fortlaufendem Erfolg. 

Österlich leben, das meint die Praxis der selbstvergessenen Liebe. Denken Sie etwa an die Gerichtsrede Matthäus 25. Früher hat man noch manchen von uns mit dem „Strenger Richter aller Sünder“ Angst gemacht. Im Evangelium scheidet der endzeitliche Richter die Schafe von den Böcken. Die Pointe ist aber nicht, dass es Sieger und Verlierer gibt, Himmel und Hölle, Schafe und Böcke. Sondern die Pointe besteht in der Frage der Gerechten: „Herr, wann haben wir dich hungrig oder nackt gesehen, wann haben wir dich besucht?“ Die Gerechten haben nicht einmal gewusst, dass sie es für Jesus getan haben! Sie haben es einfach um der Menschen willen getan. Das ist die selbstvergessene Liebe, die nicht berechnet, sondern einfach handelt. 

Oder denken Sie an das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg Matthäus 20. Sie bekommen alle den gleichen Lohn – einen Denar – obwohl einige 12 und andere nur eine Stunde gearbeitet haben. Mit anderen Worten: Wir bekommen alle denselben Himmel geschenkt. Den Unterschied macht nicht Gott, den Unterschied machen wir: Die einen haben ihr ganzes Leben wohl verbracht, haben es für Gott und die Menschen eingesetzt. Die anderen haben ihr Leben vertan, haben untätig herum gesessen. Aber dennoch: Allen wird derselbe Himmel beschert. Auch dieses Gleichnis will uns ermutigen, nicht auf himmlischen Lohn zu schielen, sondern selbstvergessen zu lieben! 

Oder denken Sie, als ein letztes Beispiel, an das Hohelied der Liebe aus 1 Kor 13. Meistens wird es für Trauungen miss-braucht, weil so oft das Wort Liebe darin vorkommt; dabei geht es nicht um Eros, sondern um Agape, also um die Liebe als Hingabe an den Nächsten. Am Schluss heißt es, dass Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben, wobei die Liebe am größten sei: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, und die Liebe ist das Größte.“ Sie kennen das in- und auswendig. Spannend, ausgerechnet Paulus, der große Theologe und Interpret des christlichen Glaubens, stellt die Liebe über den Glauben. Warum? Weil auch der tiefste Glaube ohne Liebe zum hartherzigen Fanatismus verkommt. Die Liebe ist das Korrektiv für den Glauben. Österlich leben bedeutet Hingabe aneinander, ohne Nebenabsichten: die Praxis der selbstvergessenen Liebe.

Österliche Freiheit, österliches Leben: Am treffendsten ist das in einem bekannten Gedicht von Klaus Hemmerle ausgedrückt:

 

Frei ist der Mensch,

der den Tod hinter sich

und das Leben vor sich hat,

der nicht zu vergessen braucht,

weil ihm vergeben ist

und er vergeben hat,

der vor nichts zu fliehen braucht,

weil er durch verschlossene Türen kommen

und über Abgründe gehen kann,

der sich nicht zu ängstigen braucht,

weil er immer unterwegs ist

zu einem und mit einem,

der ihn grenzenlos liebt.

 

 

Frei ist der Mensch, der zu allen offen ist,

weil er alle in sein Herz geschlossen hat.

 

 

Frei ist der Mensch,

der jenseits der Wunder lebt:

der österliche Mensch.

 

  

Das Bußsakrament


Der thematische Aufhänger zu unserem Thema „Versöhnung und Freiheit“ ist das Bußsakrament. In der Reihe der geistlichen Studientage orientieren Sie sich an den Sakramenten. Deshalb möchte ich auch hierauf eingehen. Und zwar nicht dogmatisch, liturgisch oder psychologisch. Sondern im Hinblick auf die geschenkte Freiheit.

Das Bußsakrament hat eine lange Geschichte hinter sich. In der frühen Kirche wurden schwere Sünder aus der Gemeinde ausgeschlossen - exkommuniziert. Nach einer Zeit der Buße - häufig mit hohen Auflagen! - wurde man wieder in die Gemeinde aufgenommen. Diese Wiederaufnahme nannte man Rekonziliation - so heißt heute noch die Wiederaufnahme eines Katholiken nach seinem Kirchenaustritt. Diese Rekonziliation war nur einmal im Leben möglich. 

Das empfanden die Mönche des Frühmittelalters als zu hart. Sie erfanden die Ohrenbeichte mit Tarifbuße: Darin war genau festgelegt, welche Bußstrafen für welche Sünden abzuleisten waren. Diese Form der Beichte war immer wieder möglich. Doch die dazu gehörenden Bußstrafen waren so hoch, dass man bald anfing, diese zu verrechnen. Das hat dann – über den Weg eines gedachten Kirchenschatzes – zum Ablass geführt, der eigentlich als Zeichen der Solidarität gedacht war, bald aber missverstanden wurde: Wenn das Geld im Kasten klingt… 

Eigentlich ist die Ohrenbeichte eine prima Erfindung. Sie geht davon aus, dass wir immer wieder schuldig werden. Sie macht eine Begegnung möglich, ein Gespräch. Denn das Wort, das einem hilft, kann man sich nicht selber sagen. Doch bald geriet die Ohrenbeichte zur Karikatur. Sie wurde als Erziehungsmittel benutzt. Man zählte Sünden auf, die man gar nicht begangen hatte, allein um dem Ritus Genüge zu tun. Man musste ja beichten, um kommunizieren zu dürfen. So geriet die Beichte zum Tummelplatz von Skrupeln und Skrupulanten. 

Jeder normale Gemeindeseelsorger macht die Erfahrung, dass die regelmäßig im Beichtstuhl Beichtenden häufig psychische Auffälligkeiten haben, während diejenigen, die zu einem nach Hause zum geistlichen Gespräch kommen, sehr gut über ihren Weg mit Gott reflektieren können. 

Der eigentliche Beichtknick kam 1968 mit der Enzyklika „Humanae Vitae“: Die Beichte wurde als Demütigung, die kirchliche Sexualmoral als entmündigend erlebt. Mangelndes Zutrauen in die Gewissensentscheidung einzelner machte die kirchliche Sexualmoral zu einer „Unterleibstheologie“, die mehr über die Phantasien ihrer Urheber verrät als dass sie den Menschen wirklich hilft. 

Den Grund für die Krise des Bußsakraments sehe ich nicht nur in der geschilderten Entwicklung, sondern in der falschen Gewichtung zwischen Identität („Wer bin ich?“) und Verhalten („Was tue ich?“). Wenn man in der Beichte Sünden aufzählt und diese dann anschließend via Lossprechung „glatt gebügelt“ werden, damit die „weiße Weste wieder weiß“ wird, dann verengt man die Beichte auf die Korrektur moralischen Verhaltens. Das Kreuz der Absolution wird zum moralischen Zeigefinger. 

Und dabei will die Beichte unsere christliche Identität stärken! Im Bußsakrament geht es nicht um das Ausbügeln von Fehlverhalten, sondern um den Zuspruch von Identität: Du bist und bleibst, auch wenn Du gesündigt hast, ein Kind Gottes! Du bist geliebt um Deiner selbst willen, ohne Rücksicht auf Leistung und Erfolg. Buße und Beichte haben mit Identität zu tun; mit der Zusage, wer ich vor Gott bin und sein darf. Spiritualität ist die Zusage einer solchen Identität: Seelsorger / -in ist, wer mir sagen kann, wer ich bin, wenn ich es vergessen habe! Erst auf einer unteren Verstehens-und Erfahrungsebene wirken sich Spiritualität und Identität auf unser Verhalten aus, aber dann beinahe wie von selbst.

Man kann es auch noch einfacher sagen: Mein Verhalten kann richtig oder falsch sein. Es kommt aber aus bestimmten Haltungen. Und diese Haltungen werden geprägt durch meinen Halt im Leben. Wenn wir das Verhalten kritisieren, ändern wir auch nur das Verhalten. Wir müssen die Haltungen eines Menschen stärken, indem wir ihm zusagen, dass Gott sein Halt im Leben ist. 

Das Verhalten eines Menschen kritisieren kann auch die Polizei oder die Justiz. Um den Halt eines Menschen sollten wir Christen uns kümmern. Und von daher seine Haltungen und sein Verhalten zu verändern suchen. Die Beichte als Karikatur, von der ich sprach, hat also nicht „hoch genug“ angesetzt – und wurde damit überflüssig. Eine neue Beichtpraxis muss bei der Identität eines Menschen, bei Haltungen und Halt ansetzen – und zwar positiv, wertschätzend, als Zuspruch (Spiritualität) und als Anspruch (Solidarität). 

Eine kleine Meditation

Ich möchte Sie einladen zu einer kleinen Meditation. Sie ist von Ulrich Schaffer, aber aus der Zeit, wo er noch nicht so sehr ins Esoterische abgeglitten war. Ich lade Sie ein, Ihre Augen zu schließen. Mit diesem Text habe ich schon vielen geholfen, die sich selbst nicht annehmen konnten; die immer meinten, ungenügend zu sein; die niemals gespürt haben, wie groß die geschenkte Freiheit ist, die sich in Christus offenbart und die jetzt und hier zur Liebe wird.

 

Gott, was ich nicht mehr will und was ich will

 

Ich will nicht mehr betteln.

Diese Erniedrigung passt nicht

zu einem Kind Gottes.

 

Ich will nicht mehr unterwürfig knien.

Dann kann ich deine Augen nicht sehen

und gehe an deinem Angebot vorbei.

 

Ich will mich nicht verstecken

und bewusst tun, was ich tue,

auf dem Weg in die Reife.

 

Ich will mich nicht entschuldigen

wie einer, der immer ungenügend ist.

Du hast mich doch gemacht.

 

Ich will mein Gesicht nicht vor dir verdecken.

Du sollst sehen, wer ich bin,

und ich will mich nicht mehr schämen.

 

Ich will mich nicht mehr verurteilen

wie einer, dem es immer um Schuld geht

und nicht um Wachstum.

 

Ich will keine Angst vor der Sünde haben,

weil die Angst

der Sünde die Macht gibt.

 

Ich will nicht mehr so tun,

als hätte ich keine Sehnsüchte und Träume.

In ihnen steckt der Hunger nach Leben.

 

Ich will keine Angst mehr vor dir haben,

weil Angst trennt.

Ich will leben,

bunt und auf dich zu,

wie eine Blume sich zur Sonne streckt.

 

Ich will weniger fromme Worte gebrauchen.

Ich will das Komplizierte an mir lieben.

Ich will freier mit dir sein, ohne Angst.

Ich will dein Kind sein, das erwachsen wird.

 

Ich will aufrecht gehen.

Ich will denken ohne schlechtes Gewissen.

Ich will meine Phantasie ehren.

Ich will meine Freude genießen.

Ich will meinen Schmerz verstehen.

Ich will meinen Körper würdigen.

 

Ich will voll verantwortlich für mich sein.

Ich will echter werden.

Ich will mit mir ehrlich sein.

Ich will auf dich zugehen, weil ich es will.

 

Ich will mein Leben besitzen,

damit ich es verschenken kann.

 

 

  

Konkretisierung der Freiheit im Ordensleben

 

Schauen wir einmal ganz konkret in das Leben von Ordensleuten. Ich kenne eine ehemalige Ordensfrau, die von wirklicher großer Liebe zu Jesus erfüllt war und heute noch ist. Sie hat deutlich gespürt, wie sehr Jesus sie liebt. Sie konnte mit ihm reden wie mit einem Freund, ihm alles anvertrauen, alles sagen, ihm zuhören. Darüber hinaus war sie überaus kirchlich, konnte sich einordnen in das Ganze der Kirche. 

Doch im Laufe ihres Ordenslebens musste sie feststellen: Der Orden stellte sich zwischen sie und Jesus. Obere nahmen sich wichtig, wurden autoritär, nahmen ihr jede Lebensfreude. Ein Gehorsamsverständnis, das nicht an der Identität der Ordensmitglieder interessiert war, sondern daran, dass sie funktionierten. Viele Mitschwestern waren dadurch nicht gereift, sondern infantil geblieben, weil sie nur noch auf Lohn und Strafe, auf Zuwendung und Liebesentzug reagierten. So etwas nennt man wohl Dressur. Wozu das geführt hat – dazu später mehr. 

Und dabei gilt: Ich muss erst ein Ich sein, ein Subjekt, um in Christus sein zu können; ich muss mich selbst erst haben, um mich dann verschenken zu können. Christus nimmt mich an, wie ich bin; daran kann ich wachsen und werden, daran kann ich Subjekt werden. 

In den meisten christlichen Gemeinschaften gilt: Die gestellten Aufgaben werden sehr gut erledigt. Doch nicht an den Aufgaben, die wir bewältigen, wird klar, ob wir Christus lieben, sondern allein an unserer Gemeinschaftsfähigkeit. Beruflich kriegen wir unsere Berufung hin, ohne Probleme. Aber menschlich? Ob wir andere wertschätzen, ob wir ihnen Platz machen können, das kommt aus unserer inneren Freiheit. Bestimmt kennen Sie die guten Gedanken von Papst Johannes Paul II. über eine „Spiritualität der Gemeinschaft“. Gottes Pastoral ist Freiheit, unser Umgang miteinander jedoch ist oft totalitär; wir selbst sind oft in dem verhaftet, was derselbe Papst häufig als „sündige Struktur“ bezeichnet hat, indem wir andere betreuen – eine subtile Form der Bevormundung – anstatt einander dazu zu befreien, selbstständig zu werden, Mensch zu werden. 

Glauben heißt begreifen, wie sehr Christus mich liebt, und darauf antworten, daraus leben. Viele kirchliche Gemeinschaften haben über lange Zeit nicht auf Subjektwerdung hin gearbeitet, sondern auf Ein- und Unterordnung. Heraus gekommen sind dabei Menschen, die zwar nach außen ihre Frau oder ihren Mann stehen, aber innerlich ganz „verhuscht“ und unsicher wirken. 

Autorität jedoch kommt von „augere“, groß machen. Autoritäten, die selbst aus der geschenkten Freiheit leben, machen die ihnen Anvertrauten groß. Als Pfarrer versuche ich das, vor allem durch ein wertschätzendes Miteinander im Pastoralteam. Ich versuche jemand zu sein, in dessen Gegenwart niemand klein gemacht werden kann. Häufig jedoch wird autoritär gehandelt; Autoritarismus kommt meistens aus einer ganz tief sitzenden Angst, nicht zu genügen; aus der Angst, jemand könnte mir hinter meine Karten schauen; aus tief sitzenden Minderwertigkeitsgefühlen (Alfred Adler). Davon sind viele betroffen, Obere und Untere, der Papst und die Oma, der Arbeiter und der Chef. 

Ich könnte Ihnen davon viel erzählen, weil diese unreifen Strukturen, die zu eitlem Machtgehabe einerseits und zu infantilem Gehorsam andererseits führen, auch und gerade in der Hierarchie der Kirche gut funktionieren. Ein Gemisch aus Bevormundung und Entmündigung, aus Autoritarismus und Infantilismus, das man nicht anders als totalitär nennen kann, weil es religiös verbrämt wird; Strukturen werden sakralisiert, so dass die Betroffenen häufig nicht einmal merken, dass sie darunter leiden. Eine solche Struktur ist letztendlich auf Angst aufgebaut; eine Ellenbogen- und Günstlingswirtschaft, die eigenes Denken fast unmöglich macht. Wer mitspielt – ob aus ahnungsloser Frömmigkeit oder aus berechnendem Karrierismus, kann dabei sein Rückgrat verlieren, wenn nicht gar seinen Glauben. Gefördert werden Ja-Sager, nicht aber Menschen mit Zivilcourage. 

Ein Gutteil unseres kirchlichen Denkens ist von einem fast archaischen Amtsverständnis geprägt, das einem suggeriert, hohe Amtsträger wüssten mehr von Gott als andere Menschen und hätten deshalb das Recht, eine bestimmte Art von kindlichem Gehorsam zu fordern; der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „pathogenen Hierarchie“, die Leid hervorbringt, ohne dies selbst zu merken; eine Hierarchie, die reformunfähig ist und nicht bereit zu lernen. 

Wir brauchen eine Kirche, die, wie Paulus sagt, ein Leib aus vielen Gliedern ist: Wir brauchen die Füße, die fest in der Tradition stehen, die Ohren, die genau hinhören, die Augen, die vorausschauen. Paulus denkt sich die Gemeinde als Organismus, nicht als Organisation! Doch das alles wird in autoritären Systemen nicht wert geschätzt; vielmehr gilt nur das als richtig, was die Leitungsebene denkt. Wer weiter kommen will, muss sich der Leitungs-ebene andienen; so entsteht das für absolutistische Systeme typische Schranzentum. 

Den Orden geht es hier eigentlich besser als der päpstlich-bischöflichen Hierarchie, weil die Oberen ja meistens demokratisch ins Amt kommen. Aber auch hier können sich autoritäre Strukturen verfestigen, die freies Mensch- und Christsein verhindern, auch hier kann es Totalitarismus und Entmündigung geben. 

Das so genannte römische System ist geprägt von einer stark verrechtlichten Theologie, also von einem juristi-schen Denken, bei der man sich manchmal fragt, wie viel Jesus wohl noch in die Kirche hineinpasst – aber dies sei nur eine Randbemerkung, wir können darüber gleich noch sprechen. Mehr Demut und Bescheidenheit in der Gottesrede, etwa im Sinne einer „negativen Theologie“, täte unserer Kirche in allen Bereichen gut: Wir wissen von Gott nur wenig, können von ihm nur in Bildern sprechen; es ist mehr ein Nichtwissen als ein Wissen, mehr Mystik als Dogma, mehr Entgrenzung als Eingrenzung. 

Auf jeden Fall gilt: An der Kirchenkrise ist nicht nur die viel beschworene Gotteskrise schuld, sondern auch die innerkirchlichen Strukturen, weil sie undurchsichtig sind, sich als nicht lernfähig erwiesen haben oder – auf unser Thema bezogen – weil sie keine Freiheit ausstrahlen, keine Freiheit ermöglichen. Kein Wunder, dass sich viele kritische Zeitgenossen davon befreien wollen, weil sie die geschenkte Freiheit des Evangeliums, die „Freiheit zu“ in der Kirche gar nicht mehr entdecken können. 

Die ehemalige Ordensfrau, von der ich sprach, hatte all dies erlebt und erlitten. Es zeigt sich im konkreten Alltag nicht nur in Neid und Eifersucht, sondern auch in einer bestimmten subtilen Förderung infantiler Bigotterie: Man beweist sich gegenseitig sein Frommsein, indem man das Spielchen „Wer hat am meisten zu sagen?“ oder auch „Wer hat bei den Oberen die besten Karten?“ mitspielt. Man gilt als besonders spirituell, wenn man ungewöhnlich betulich daherkommt. 

Wie einfach das ist, zeigt der leichtfertige Gebrauch des Adjektivs „geistlich“. Bei dem Adjektiv „geistlich“ muss man nämlich gut aufpassen, denn es wird in letzter Zeit häufig, ja beinahe inflationär benutzt, um ein Vorhaben oder eine Autorität irgendwie unangreifbar zu machen. So werden Meinungen und Autoritäten vor Kritik geschützt: Wer hinterher nicht hundertprozentig zustimmt, ist eben nicht „geistlich“ genug. Das Adjektiv „geistlich“ führt damit faktisch zu einem innerkirchlichen Widerspruchsverbot. „Man muss das geistlich sehen“ heißt dann soviel wie: „Bitte keine weiteren Fragen, die Diskussion ist beendet!“

So wird aus „geistlich“ geradezu eine Selbst- Immunisierung der Kirche gegen den Geist Gottes, ein subtiler Gehorsams-und Stillhalteappell seitens der Autorität. Wer nicht spurt, wird als oberflächlich diffamiert, eine andere Spielart des Illoyalitätsverdachts. So etwas tut weh, vor allem, wenn man es ehrlich meint, wenn man kritischloyal ist und sich ganz und gar für seine Kirche oder seinen Orden eingesetzt hat. So werden Reformer, die wir so dringend brauchen, mundtot und mutlos gemacht. Schade!

Konstruktive Kritik wird nicht gewürdigt, stattdessen gibt es einen administrativ verordneten Optimismus, der ungefähr so lautet: „Nicht der Apparat muss sich ändern, wir müssen uns alle ändern, wir müssen geistlicher werden!“ Mit solchen Aussagen wird jede Kritik vom Tisch gefegt, und den Kritikern wird eingeredet, sie seien nicht fromm genug, oder sie liebten zu wenig.

Die Ordensfrau musste austreten, um weiter bei Jesus sein zu können, um seine Freiheit, die zur Liebe wird, zu leben! Wenn christliche Gemeinschaften die Freiheit unterdrücken, drängen sie sich zwischen Jesus und ihre Mitglieder. Wenn sich die Kirche als Institution zu wichtig nimmt, wenn sie ihre Strukturen sakralisiert und dadurch immunisiert, anstatt sie immer wieder zu reformieren, entfernt sie sich von Jesus Christus.

 

Machen wir uns noch einmal bewusst, worum es geht:

 

1. Nur wer sich hat, kann sich verschenken.

2. Nur aus der geschenkten Freiheit erwächst die Liebe.

3. Die selbstvergessene Liebe ist die Konsequenz eines österlichen Glaubens.

4. Wer österlich lebt, ist versöhnt mit Gott, mit anderen, mit sich selbst.

 

Evangelische Räte

 

Ein kurzer Blick in die evangelischen Räte, als weitere Variation des Freiheitsthemas. Wenn zum Beispiel die Ehelosigkeit nur als Verzicht gesehen wird, lebt man als lebendiges Manko. Dann wird sie nicht zum Gewinn für einen selbst und für andere; sie wird zu Kampf und Krampf. 

Woran merkt man das? An unserer Selbst- und Außenwahrnehmung als Frauen und als Männer! Wenn die Ehelosigkeit nicht aus einer ganz großen Freiheit erwächst, dann wirken ehelose Frauen wie Tanten, ehelose Männer wie Onkel. Man findet uns interessant oder auch skurril, aber so richtig ernst genommen werden wir nicht. Ich bin aber zuerst Frau oder Mann, ich muss mich auch in diesem Sinne haben, um mich verschenken zu können.

Oder, zweitens, der Gehorsam: Die meisten traditionell aufgewachsenen Kirchenmenschen bleiben zeitlebens Kinder, die blind gehorchen, wie Marionetten. Oder sie bleiben auf dem Stand pubertierender Jugendlicher, die immerzu revoltieren und jede Autorität von vornherein in Frage stellen. Beide – die lebenslangen Kinder und die ewigen pubertierenden Rebellen – sind nicht erwachsen geworden. Erst wenn ich meine ganze Freiheit besitze, kann ich aus Liebe in den Gehorsam Jesu eintreten. Ansonsten werde ich immer nur versuchen, irgend-welchen Oberen zu gefallen, und das ist hochgradig infantil.

Gehorsam meint das Hören auf das Wort Gottes und das Antworten darauf, und zwar das gemeinsame Hören einer ganzen Gemeinschaft, nicht nur der Leitungsebene! Einsame Entscheidungen „von oben“ sind meistens ungeistlich; sie sind und bleiben willkürlich, selbst wenn sie sachlich gut begründet sind. Einsame Entscheidungen entmündigen nämlich den, der sich ihnen beugen muss.

Gehorsam gibt es nur im gemeinschaftlichen Horchen! Aus der geschenkten Freiheit erwächst die selbstvergessene Liebe, die keine Nebenabsichten mehr hat, die nichts verdienen will, die nicht auf Pluspunkte schielt – weder bei Gott noch bei den Vorgesetzten. 

Und, last but not least, die Armut: Die meisten, die freiwillig arm leben, werden entweder unbedarft, weil sie keine Bedürf-nisse mehr haben, oder sie werden verschlagen, indem sie versuchen, möglichst viel heraus zu bekommen unter dem Deckmäntelchen angeblicher Armut. Armut kann ich erst leben (und lieben), wenn ich eine Person bin, die um ihr Bedürfen weiß. Wer nichts hat (nicht einmal sich selbst), der kann auch nichts loslassen. Die selbstvergessene Liebe will mit ihrer Selbstvergessenheit nichts erreichen; sie will einfach lieben um der Liebe willen.

 

Eine Parabel

 

Vielleicht kennen Sie die Parabel vom Adler auf dem Hühnerhof. Eine sehr bekannte Geschichte, so dass ich ein bisschen Mut brauche, sie hier überhaupt zu erwähnen. Sie kann das Gesagte auf eine bildliche Ebene bringen, die hoffentlich niemand als allzu vordergründig empfinden wird.

Einst fand ein Mann bei einem Gang durch den Wald einen jungen Adler. Er nahm ihn mit nach Hause auf seinen Hühnerhof, wo der Adler bald lernte, Hühnerfutter zu fressen und sich wie ein Huhn zu verhalten. Eines Tages kam ein Zoologe des Wegs und fragte den Eigentümer, warum er einen Adler, den König aller Vögel, zu einem Leben auf dem Hühnerhof zwinge. „Da ich ihm Hühnerfutter gegeben und ihn gelehrt habe, ein Huhn zu sein, hat er nie das Fliegen gelernt“, antwortete der Eigentümer. „Er verhält sich genau wie ein Huhn, also ist er kein Adler mehr.“ „Dennoch“, sagte der Zoologe, „hat er das Herz eines Adlers und kann sicher das Fliegen lernen.“

Nachdem sie die Sache beredet hatten, kamen die beiden Männer überein, zu ergründen, ob das möglich sei. Behutsam nahm der Zoologe den Adler in die Arme und sagte: „Du gehörst den Lüften und nicht der Erde. Breite deine Flügel aus und fliege.“ Doch der Adler war verwirrt; er wusste nicht, wer er war, und als er sah wie die Hühner ihre Körner pickten, sprang er hinab, um wieder zu ihnen zu gehören. Unverzagt nahm der Zoologe den Adler am nächsten Tag mit auf das Dach des Hauses und drängte ihn wieder: „Du bist ein Adler. Breite deine Flügel aus und fliege.“ Doch der Adler sprang wieder hinunter zu dem Hühnerfutter. Am dritten Tag machte sich der Zoologe früh auf und nahm den Adler aus dem Hühnerhof mit auf einen hohen Berg. Dort hielt er den König der Vögel hoch in die Luft und ermunterte ihn wieder: „Du bist ein Adler. Du gehörst ebenso den Lüften wie der Erde. Breite jetzt deine Flügel aus und fliege.“ 

Der Adler schaute sich um sah zurück zum Hühnerhof und hinauf zum Himmel. Noch immer flog er nicht. Da hielt ihn der Zoologe direkt gegen die Sonne, und da geschah es, dass der Adler zu zittern begann und langsam seine Flügel ausbreitete. Endlich schwang er sich mit einem triumphierenden Schrei hinauf gen Himmel. Es mag sein, dass der Adler immer noch mit Heimweh an die Hühner denkt; es mag sogar sein, dass er hin und wieder den Hühnerhof besucht. Doch soweit irgendjemand weiß, ist er nie zurückgekehrt und hat das Leben eines Huhns wieder aufgenommen. Er war ein Adler, obwohl er wie ein Huhn gehalten und gezähmt worden war. – Soweit die Parabel.

Kann es sein, dass viele von uns solche Adler sind, die auf dem Hühnerhof leben? Die sich nicht zu fliegen trauen? Die nicht in die Sonne schauen mögen? 

Interessant: Der Adler ist das Symboltier für den Evangelisten Johannes. Denn nur der Adler kann direkt in die Sonne schauen. Damit wollte man sagen: Der Evangelist Johannes hat das Wesen Jesu Christi am besten erkannt; das Wesen jener „Sonne der Gerechtigkeit“, jener „österlichen Morgenröte“, die uns Kunde gebracht hat vom Herzen des Vaters. 

Wann werden wir fliegen? Wann leben wir die geschenkte Freiheit, die von Ostern herkommt, und die sich in selbst-vergessener Liebe äußert?

Lassen Sie mich schließen mit den Gedanken des Anfangs:

 

Freiheit, die mir geschenkt wird, ist Gnade.

Freiheit, die ich mir (heraus-)nehme, ist Willkür.

Erlösung ist geschenkte Freiheit aus Liebe.

 

Glauben ist das Annehmen der Freiheit, die zur Liebe wird.




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